Was ist das Besondere an Märchen?

Geisler: Einer meiner Lehrer, Johannes Galli, prägte den Satz: „Alle Geschichten unterhalten. Aber die Märchen wirken!“ Märchen sind also etwas, was tiefer geht als austauschbare Storys. Gerade Kinder mit ihrem unverbauten Gespür merken sehr schnell, dass ein Märchen, vorgelesen, erzählt oder als Theaterstück aufgeführt, weit mehr als ein Zeitvertreib ist, sondern berührt.

Womit faszinieren die Märchen?

Geisler: Märchen benutzen eine Bilder- und Symbolsprache, die die Gefühlswelt erreicht. Die Heldinnen und Helden eines Märchens werden vorgestellt, es tritt eine schlimme, bedrohliche Situation ein, die überwunden werden muss und nachdem dies gelungen ist, geht man gestärkt daraus hervor. Kinder freuen sich daran, sich in diese Bilder und Figuren einzufühlen. Märchen wurden ursprünglich nicht für Kinder erzählt, sondern für Erwachsene, bzw. für Heranwachsende. Auch bei uns Erwachsenen besteht immer noch die Fähigkeit, dieses unverbaute, kindhafte Gespür zu vernehmen.

Es war einmal … Sind Märchen noch zeitgemäß?

Geisler: Diese Frage hätte auch schon vor 100 oder 1000 Jahren gestellt werden können und ich bin der Meinung: Ja, auf jeden Fall! Märchen sind zeitlos. Sie haben immer Bezug zum menschlichen Alltag. Mit dem Theater haben wir die hervorragende Möglichkeit, Inszenierungen in ein zeitgemäßes Umfeld zu verlagern. Ich entdecke in Märchen, die ich bereits ungezählte Male gespielt und selbst auch noch inszeniert habe, doch immer wieder Neues, Dinge, die auch mit meinem eigenen Leben zu tun haben.

Geht es in Märchen nicht zu sehr um gefährliche Themen rund um Streit, Habgier und Bedrohung?

Geisler: Sind das nicht genau die Themen, die in unserer Gegenwart eine große Rolle einnehmen? Und blicken wir zurück in vergangene Zeiten, war das nicht anders. Märchen bedienen extreme Situationen. Es geht um Gut und Böse. Um Richtig und Falsch. Um Vertrauen und Verrat. Und um Konsequenzen, die ein jegliches Handeln hervorbringt. Gehen wir von den bekannten Grimm‘schen Märchen aus, dann haben wir z. B. bei Rotkäppchen im Hin- tergrund die Themen Gewalt und Verführung zu süchtigem Verhalten, bei Frau Holle eine ausgleichende Gerechtigkeit, beim Froschkönig die konflikthafte, aber erfolgreiche Annäherung von Mann und Frau in eine ausgewogene Beziehung. Jedes Kind wird dabei sein Lieblingsmärchen haben, welches mit seinem Leben am meisten zu tun hat.

Was ist Ihr Lieblingsmärchen und warum?

Geisler: Es ist eigentlich immer das Märchen, an welchem ich aktuell als Theaterstück arbeite. Allerdings ist da eines, das ich ganz besonders schätze und in dem sich einiges, was ich bereits gesagt habe, wiederfindet. „Der Wolf und die 7 Geißlein“ ist sehr bekannt und auch beliebt. Bei uns gibt es dieses Stück als Mitspieltheater und die Kinder sind begeistert davon, wie sie hier gleichermaßen mitmachen dürfen oder zusehen können, wie die Geschichte erzählt wird oder von anderen Kindern nachgespielt wird. Es geht dabei um den bösen Wolf, der es durch List und Geschick schafft, die 6 Geißlein zu fressen. Zusammen mit dem 7. Geißlein rettet die Mutter die verschlungenen Geißlein und füllt den Wolfs-Bauch mit Steinen, die ihm beim Trinken am Wasser zum Verhängnis werden und in den Brunnen stürzen lassen. Die Symbole der Geschichte sind gewaltig: Hier die arglosen Kinder, da der bitterböse Wolf als Agressor. Eine unüberwindbare Barriere, die aber mit allerhand List doch ihren Durchlass findet. Übertragen auf den Alltag? Wie oft wird man reingelegt, weil man Dinge kundgibt, die die andere Seite besser nicht gehört hätte? Beim Internetsurfen versehentlich mal was angeklickt? – Zack, da kommen sie, die zigfachen Angebote zu diesem oder jenem, alles superbillig, unverbindlich… bloß nicht noch was anklicken. Das ist die eher harmlose Gefahr. Aber es kann teuer werden.

Es gibt immer viel zu Lachen und ein Happy End – wie schaffen Sie das?

Geisler: Meine persönliche Freude ist es, Märchen zu inszenieren, die wesentlichen Eckpunkte zu erfassen, die tiefsinnigen Bestandteile herauszuheben und sehr viel Humor in die Handlung einzubinden. Das schaffen wir durch Ausdrucksstärke in Bewegung, Gestik, Mimik und selbstverständlich der Stimmleistung. Dazu besteht die Möglichkeit, die Kinder mit in die Vorstellung einzubeziehen. Sie können unter Anleitung selbst in der Geschichte einen Platz einnehmen. Auch an sehr schwierigen Stellen kann dann gelacht werden. Der „böse Wolf“ wird dadurch nicht etwa weniger gefährlich, aber man getraut sich als Kind hinzusehen, wie die Gefahr denn aussieht. Märchen gehen jedes Mal gut aus. Beim „Wolf und den 7 Geißlein“ ist bei den Kindern immer eine phantastische Stimmung während des ganzen, im Spiel durchlebten Stücks.

Der Begriff Märchen wird häufig gleichgesetzt mit „Lüge“ und „erfundenem Quatsch“. Wie sehen Sie das?

Geisler: Aus meiner Sicht ist genau das Gegenteil der Fall. Wahrheit ist nicht etwa das Zusammenfügen von beliebigen Fakten, die belastbar sein mögen oder einer zielführenden Wunschvorstellung entsprechen. Auf Märchen jedenfalls trifft all dies nicht zu, denn die stehen für sich. In einer Zeit, in der es mir immer schwerer fällt, bei all dessen, was mich an Information erreicht, die Desinformation herauszufiltern, all die komplexen und zum Teil primitiven Mutmaßungen zu prüfen, freue ich mich, dass es sowas wie die Märchen gibt. Und ich gebe sie gerne auch mit Freuden weiter.

Märchenbühne, Umwelttheaterstücke, Theater zum Mitmachen für Kinder und Familien. In der Steingasse, im Kindergarten, in der Schule, auf Veranstaltungen u.v.m.

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